Kommunitäten und überkonfessionelle Bewegungen

Kommunitäten und überkonfessionelle Bewegungen
Kommunitäten und überkonfessionelle Bewegungen
 
Die Geschichte der Christenheit verlief in einer Abfolge von wechselseitigen Abgrenzungen und anwachsenden Aufsplitterungen zu einer Fülle eigenständiger Kirchen und Gemeinschaften. Die Abtrennungen diskriminierten die geglaubte Einheit der Kirche und machten die sichtbare Einheit als geschichtliche Möglichkeit fragwürdig. Auch die Einheitsbestrebungen des 20. Jahrhunderts bezeugten den bestehenden Mangel wie die mit dem Glauben verbundene Hoffnung, die Einheit der Christenheit zu erlangen. Die ökumenischen Vorgänge bestätigten zugleich das Unvermögen kirchlicher Körperschaften, die Begrenzheit konfessioneller Eigenarten und Machtinteressen zugunsten einer übergreifenden und einigenden Gestalt aufzuheben.
 
Im 20. Jahrhundert gründeten Männer und Frauen, Theologen und Laien, »die mit Ernst Christen zu sein begehren«, ordensähnliche Gemeinschaften außerhalb der verfassten Kirchen. Der äußere und innere Umbruch in Kirche und Gesellschaft, spirituelle Erfahrungen und theologische Einsichten nach dem Ersten Weltkrieg bereiteten dabei den Boden für »Experimente der Brüderlichkeit«. Die geistige und seelische Not der Zeit verlangte nach sittlicher und kirchlicher Erneuerung. So entstanden in Deutschland und anderen europäischen Ländern Bruder- und Schwesternschaften, die mit einer besonderen Lebensform Christsein beispielhaft vorführen, unabhängig von erstarrten kirchlichen Strukturen. Urchristliche Vorbilder vor Augen, verpflichten sich ihre Mitglieder zu einer dem Evangelium gemäßen und liturgisch gestalteten Lebensführung inmitten der modernen Welt des Berufs, der Ehe und Familie.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein »monastischer Frühling« ein. In ihm wuchsen zahlreiche Kommunitäten, deren Glieder im gemeinsamen Leben die »evangelischen Räte« der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams praktizieren. Bei der Ausgestaltung der Gemeinschaft wurden Elemente aus den verschiedenen christlichen Traditionen aufgenommen. Die spirituelle Erfahrung überwand konfessionelle Enge. Mit ihrer selbst gestalteten Ausprägung des Kircheseins stellen solche geistlichen Kommunitäten eine Alternative zur volkskirchlichen Gemeindeform dar. Sie selbst verstehen sich als »wirkungsmächtiges Ferment in der Kirche und für die Welt«. Als »Laboratorien der Einheit« besitzen sie eine kirchenkritische Funktion. In vielen Ländern verstreut gibt es heute etwa 60 größere Kommunitäten und zahlreiche kleinere Versuche von geistlicher Lebensgemeinschaft, die den »evangelischen Räten« teils streng, teils abgewandelt folgen.
 
Mit einem 1974 eröffneten »Konzil der Jugend« und weiteren europäischen und interkontinentalen Veranstaltungen - seit 1982 auf dem »Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde« - machte die »Communauté de Taizé« weltweit auf sich aufmerksam. Die 1949 von Roger Schutz in Taizé bei Cluny in Burgund gegründete Bruderschaft war zunächst ein Haus des stillen Gebetes und der biblischen Besinnung, zugleich ein Zufluchtsort für politisch Verfolgte. Im Lauf der Zeit wuchs die Zahl der Brüder unterschiedlicher konfessioneller und nationaler Herkunft auf annähernd Hundert. In ihrem gemeinsamen Leben bleibt eine Berufsausübung möglich. Liturgisches Feiern und brüderliches Teilen, Spiritualität und Solidarität mit allen Menschen prägen die Kommunität. Streben nach der Einheit der Kirche wie Dienst an der Welt bringen die lebensgestaltende Kraft des Evangeliums zum Ausdruck. Mit ihrer Gemeinschaftsform und ihrem Wirken bietet die Bruderschaft Modelle eines grenzüberschreitenden Miteinanders und der Versöhnung. In mehreren Ländern wurden an Orten bedrückender Not gleiche Bruderschaften gegründet.
 
Neben den geistlichen Gemeinschaften organisierten sich seit den Fünfzigerjahren weitere Gruppen überkonfessioneller Art. Sie geben sich als Erlebnisgemeinschaft von Gleichgesinnten zu erkennen. Über die Grenzen der bestehenden Konfessionen hinweg wollen sie die persönliche Glaubenserfahrung oder die politische Verantwortung der Christen zur Geltung bringen. Sie reagieren auf Mangelerscheinungen der kirchlichen Behausung. Die von den USA ausgehende »charismatische Bewegung« hat mittlerweile alle etablierten Kirchen erfasst. Sie steht im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen religiösen Erwachen in den Religionen und Kulturen. In kleinen Gebetsgruppen sollen die Gaben und Befähigungen bewusst werden, die der Heilige Geist dem einzelnen. Christen schenkt; sie bilden das »Charisma«. Die Beteiligten sollen eine Bekehrung zu einem neuen Leben und seelische Heilung erleben. Mit der erneuernden Kraft der Geisterfahrung wirken solche Gruppen vornehmlich in ihren jeweiligen Kirchen. Von den kirchlichen Oberen werden sie teils argwöhnisch betrachtet, teils salonfähig gemacht. Die charismatischen Erfahrungen verbinden Gläubige aus unterschiedlichen Kirchen. Es handelt sich also um eine die Konfessionen übergreifende Erweckungsbewegung. In den »aktionsorientierten« Gruppen hingegen kommen. Christen zusammen, die zur aktiven Wahrnehmung der christlichen Verantwortung in die Welt drängen. Die Glaubenseinsicht in die befreiende Botschaft des Evangeliums treibt sie zum Protest gegen menschenverachtende politische Interessen und Zustände und zum Engagement für eine menschenwürdige und lebenserhaltende Gestaltung der heutigen Welt.
 
Widerspruch und Aktion der neuen christlichen Bewegungen sind inhaltlich und formal vielfältig. Dies betrifft aktuelle Vorgänge wie prinzipielle Einstellungen und Entwicklungstendenzen. Sie resultieren aus der christlichen Verpflichtung, einzeln wie gemeinschaftlich für Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen, für den Frieden zwischen den Völkern und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Die geistlichen Gemeinschaften heben sich ab von den dogmatisch und rechtlich geordneten kirchlichen Körperschaften. Ihr Beispiel kann nicht Allgemeingut werden. Die transkonfessionellen Bewegungen unterscheiden sich von der in sich ruhenden Institution Kirche. Ihre spezifischen Anliegen beunruhigen, bewirken Spannungen im kirchlichen Gefüge. Persönliche Glaubenserfahrungen und Grenzüberschreitungen regen den ökumenischen Prozess an, auch wenn sie die Spaltung des Christentums nicht prinzipiell aufheben.
 
Prof. Dr. Dr. Erwin Fahlbusch
 
 
Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Perspektiven, Strömungen, Motive in der christlichen und nichtchristlichen Welt, herausgegeben von Herbert Vorgrimler und Robert VanderGucht. 4 Bände. Freiburg im Breisgau u. a. 1-21969—70.
 Daiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.
 
Geschichte des Christentums. Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.
 
Neue transkonfessionelle Bewegungen. Dokumente aus der evangelikalen, der aktionszentrierten und der charismatischen Bewegung. Frankfurt am Main 1976.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Kommunitäten —   [französisch communauté, von lateinisch communitas »Gemeinschaft«], Singular Kommunität die, , Bezeichnung für die Orden, Bruder und Schwesternschaften in den evangelischen Kirchen. Trotz grundsätzlicher Kritik an Klöstern und Orden durch die… …   Universal-Lexikon

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